Friedrich Dürrenmatt, Lis Boehner, Felix Hoffmann und Werner Bischof – sie alle versuchten den Hauptpreis beim Zeichenwettbewerb im Pestalozzi-Kalender zu gewinnen. So auch ein 18-jähriges Mädchen aus Paris im Jahr 1927, von dem dieses Fundstück stammt. Passend zum 100. Todestag von Johann Heinrich Pestalozzi, dem Namensgeber des Schülerkalenders, wählte sie ein Motiv, das die Weiterführung seines Werks aus dem Jenseits imaginiert.
Der Pestalozzi-Kalender
Der Schülerkalender wurde erstmals 1908 von dem Berner Kaufmann Bruno Kaiser herausgegeben. Da das Konterfei des Pädagogen Johann Heinrich Pestalozzi den Buchdeckel zierte, wurde der Schülerkalender im Volksmund bald Pestalozzi-Kalender genannt und führte diesen Namen dann auch als offiziellen Titel. Anfänglich nur in der Deutschschweiz vertreten, erschien der Kalender bald auch in französischer und italienischer Sprache und war lange ein treuer Begleiter zahlreicher Schweizer Kinder und Jugendlicher. Besonders beliebt waren die jährlichen Gestaltungswettbewerbe, die mit dem Hauptgewinn, einer silbernen Zenith-Präzisionsuhr, warben.
Zuerst die Arbeit, dann das Vergnügen
Nicht selten liessen sich die Wettbewerbsteilnehmer:innen für ihre Werke vom Kalender selbst oder gar von dessen Namensgeber inspirieren. So auch ein 18-jähriges Mädchen aus Paris im Jahr 1927, deren eingesandtes Bild davon erzählt, wie Pestalozzi sein Werk aus dem Jenseits fortführt. Auf einer Wolke erscheint der Pädagoge einem Vagabunden, der essend im Gras liegt und dem Nichtstun frönt. Pestalozzi reicht ihm mit der einen Hand eine Sichel dar, während in der anderen Hand ein Leckerbissen wartet. Die Botschaft ist klar: Zuerst die Arbeit, dann das Vergnügen. Diese Animierung zum Tatendrang rekurriert auf Pestalozzis Werke, in denen er die Erziehung zur Nützlichkeit proklamiert. Bis heute ist die Kurzformel von «Kopf, Herz und Hand» bekannt, mit der auf eine ganzheitliche Herausbildung von Einsicht, Liebe und Berufskraft verwiesen wird. Diese – so Pestalozzis Überzeugung – führe Menschen zu Vollendung und Sittlichkeit.
Ein Leben im Dienst der Menschheit
Inspiriert wurde die vorliegende Zeichnung denn auch durch einen Artikel über Pestalozzi in der Schweizer Zeitschrift L’Illustré, wie ein Vermerk der Urheberin auf der Vorderseite der Zeichnung deutlich macht. Darin zitiert das Mädchen Albert Malche, den Autoren des Artikels, seines Zeichens Genfer Regierungsrat und Professor für Pädagogik, wie folgt: «Sans cesse il [Pestalozzi] a anaché des malheureux de leur misère et relévè les hésitants de la vie, répendant partout l’esprit, le goût de l’action.» (Unaufhörlich rettete Pestalozzi die Unglücklichen aus ihrem Elend und reichte den Zögerlichen im Leben die Hand, indem er überall den Geist und die Lust am Handeln verbreitete.) Malches Text liest sich wie eine Hagiographie. Voll des Lobes für den Vater der Nation beschreibt Malche Pestalozzis Werdegang von der Errichtung einer Berufswerkstatt und Schule auf dem Neuhof in Birr und die Aufnahme der Waisenkinder von Stans bis hin zum Wirken des Pädagogen in Yverdon. Malche sieht diesen Lebensweg als Inbegriff dafür, wie sehr Pestalozzi sein Leben in den Dienst der Menschheit stellte, ganz nach der Devise: Nichts für mich, alles für die Anderen!
Das Werk von Pestalozzi aus heutiger Sicht
Seit das Mädchen dieses Bild in ihrem Pariser Jugendzimmer entworfen hat, ist geraume Zeit verstrichen. In einigen Jahren, 2027, jährt sich Pestalozzis Todestag zum 200. Mal: Wie sähe dann wohl eine Wettbewerbszeichnung zu Pestalozzi aus? Grundlage wäre vermutlich heute keine Hagiografie mehr. Dank jüngerer Forschungen wissen wir, dass der «Mythos Pestalozzi» mit Vorsicht zu geniessen ist – die Praxis in Pestalozzis Erziehungsanstalten war nicht unbedingt so, wie man aufgrund seiner Werke annehmen würde.
Neue Forschungsergebnisse zu Pestalozzi sind zu begrüssen, denn sie zeigen einerseits die Wirksamkeit seiner Ideen und andererseits bieten sie Einblicke in Erziehungspraxen des 18. und frühen 19. Jahrhunderts – und davon wissen wir bislang immer noch wenig. Und sie zeigen auch, dass Pestalozzi nach wie vor eine zentrale Figur unserer Bildungsgeschichte ist.
Der Pestalozzi-Kalender und die Sammlungen Pestalozzianum
In den 1990er Jahren wurden die bildungshistorischen Sammlungen der Stiftung Pestalozzianum um einen beachtlichen Bestand reicher, als rund 23’000 Zeichnungen und Scherenschnitte aus den Wettbewerben des Pestalozzi-Kalenders aus den Jahren 1912 bis 1984 in die Sammlung übergingen. Im Rahmen des durch den Gemeinnützigen Fonds des Kantons Zürich geförderten Projekts «Sammlungen Pestalozzianum» werden alle diese Zeichnungen bis Ende 2022 erschlossen und für Forschung und Öffentlichkeit online zugänglich gemacht.
Literatur
Cantoni, Fabio. 2012. «Auf ‘Kopf, Herz und Hand’ reduziert.» Bündner Schulblatt 2: 9-11.
Grube, Norbert und Claudia Mäder. 2017. «Papa Pestalozzi.» NZZ Geschichte 11: 25-36.
Malche, Albert. 1927. « Le Centenaire de Pestalozzi 1746-1827. » L’Illustré 8: 146-148.
Stadler, Peter. 2020. « Johann Heinrich Pestalozzi.» Historisches Lexikon der Schweiz (HLS). Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/009054/2020-11-18/, konsultiert am 28.09.2021.