Im Jahr 1933 sandte ein zwölfjähriger Junge aus Konolfingen eine Zeichnung beim Pestalozzi-Kalender-Wettbewerb ein. Sie zeigt eine Schlachtszene zwischen feindlichen Heeren: Mit Langspiessen wehren sich Fusssoldaten gegen Berittene. Signiert hat der Junge sein Werk mit «Fritz Dürrenmatt» – später sollte er unter seinem vollen Namen Friedrich bekannt werden. Er wetteiferte in der Kategorie «Zeichnen nach eigener Phantasie» mit einer grafisch reduzierten und spärlich schraffierten Umrisszeichnung, die er mit «Die Schweizerschlacht» betitelte. Sie stiess bei den Juroren – neben Bruno Kaiser, dem Herausgeber des Pestalozzi-Kalenders, sass vermutlich auch der Maler Ernst Linck (1874–1935) in der Jury, einer der Grafiker, die damals noch für die Bebilderung des Pestalozzi-Kalenders verantwortlich waren – auf Anklang. Sie wurde prämiert und im Folgejahr sogar im zweiten Teil des Kalenders, dem sogenannten Schatzkästlein, abgebildet. Der junge Dürrenmatt erhielt Anerkennung für sein Talent, indirekt die Aufforderung, sich weiterhin künstlerisch zu betätigen, und als monetären Preis eine der jährlich versandten fünfzig silbernen Zenith-Präzisionsuhren – allerdings fiel sie ihm zu Boden und ging kaputt, wie er sich noch nach Jahrzehnten in seinem Spätwerk, den Stoffen, erinnern sollte. Vielleicht hat der beschädigte Preis oder der frühe Ruhm den jungen Dürrenmatt angespornt. Denn ein Jahr später nahm er erneut an dem Zeichenwettbewerb teil. Diesmal mit sechs Zeichnungen.
Eine Vorliebe für die Helden der Schweizer Geschichte
Der junge Zeichner blieb seiner Motivwahl bei allen eingesandten Zeichnungen treu. Fünf von sechs Zeichnungen aus dem Jahr 1934 zeigen Helden der Schweizer Geschichte: «Die Schlacht bei St. Jakob», «Schweizer im Kampf mit einem Ritter», «Adrian von Bubenberg hält Ausschau nach den Burgundern», «Pidder Lüng» und «LOGE». Diese Zeichnungen wurden mit der von der Preisjury erwünschten Bescheinigung eines Elternteils eingereicht. Dürrenmatts Vater bestätigt dabei auf der Rückseite einer der Zeichnungen die Originalität der vorliegenden Bilder wie folgt: «Fritz Dürrenmatt, Konolfingen, 13 jährig, 2te Sekundarschulklasse der Sekundarschule Grosshöchstetten hat diese und die anderen eingesandten Zeichnungen selbständig nach eigener Phantasie gezeichnet. Der Vater: R. Dürrenmatt, Th., Konolfingen, den 29. Juni 1934». Auch für diese sechs Zeichnungen erntete Dürrenmatt Lob von der Jury. Da er im Vorjahr allerdings bereits eine Uhr erhalten hatte, wurde der Beitrag diesmal nur noch symbolisch ausgezeichnet. Für seine Zeichnung «Die Schlacht bei St. Jakob» erhielt er den Ehrenpreis und wurde unter den Preisgewinnern im Kalender gewürdigt.
Der Pestalozzi-Kalender-Wettbewerb als Spiegel der Zeit
Der Pestalozzi-Kalender-Wettbewerb ist Teil eines Schülerkalenders, den der Berner Kaufhausbesitzer Bruno Kaiser ab 1908 unter dem Namen Kaiser’s neuer Schweizer Schülerkalender herausgab. Auf dem Buchdeckel prangte ein Bildnis des Schweizer Pädagogen Johann Heinrich Pestalozzi (1746–1827), weshalb der Kalender umgangssprachlich schlicht «Pestalozzi-Kalender» genannt wurde. Diesen Namen übernahm schliesslich die Pro Juventute, die den Kalender ab 1941 verlegte.
Die Zeichenwettbewerbe im Pestalozzi-Kalender erfreuten sich grosser Beliebtheit bei Kindern und Jugendlichen im Alter von zehn bis fünfzehn Jahren. So belegen es die über Jahrzehnte hinweg zahlreich eingesandten Zeichnungen. Die sechs Zeichnungen von Friedrich Dürrenmatt, die er 1934 beim Pestalozzi-Kalender-Wettbewerb eingereicht hatte, sind heute im Besitz der Stiftung Pestalozzianum. Diese besitzt umfangreiche, teils einmalige bildungshistorische Sammlungen, zu denen auch etwa 70 000 Kinderzeichnungen gehören. Die Sammlung an Kinderzeichnungen geht zurück auf das Internationale Institut für das Studium der Jugendzeichnung, das 1932 als Abteilung des Pestalozzianums geschaffen wurde. Das Institut, vom Zürcher Zeichenlehrer Jakob Weidmann (1897–1975) gegründet, baute eine reformpädagogische Studiensammlung von Schulzeichnungen auf. Neben Schulzeichnungen sammelte das Institut auch Zeichnungen aus Zeichenwettbewerben. Besonders interessant waren die Zeichenwettbewerbe des Pestalozzi-Kalenders, da sie verschiedene Kategorien abdeckten, die sowohl traditionelle Wettbewerbskategorien wie «nach eigener Phantasie», «nach der Natur», «in einem Strich» und «Scherenschnitte» als auch wechselnde Trends aus dem schulischen Gestaltungsunterricht widerspiegelten. Die Zeichnungen aus dem Pestalozzi-Kalender-Wettbewerb sind aufgrund ihrer Anzahl (etwa 25 000 Zeichnungen), ihrer thematischen Breite und ihrer grossen Resonanz in der Öffentlichkeit ein zentraler Bestandteil der Sammlung an Kinderzeichnungen der Stiftung Pestalozzianum.
Verschollen, aber nicht vergessen
Die prämierte Zeichnung «Die Schweizerschlacht» aus dem Jahr 1933 gilt als verschollen. Es ist jedoch nicht ausgeschlossen, dass auch sie sich in den bislang unbearbeiteten Beständen der Stiftung Pestalozzianum befindet. Falls dem so ist, besteht eine Chance auf Wiederentdeckung. Denn aktuell werden die umfangreichen Sammlungen der Stiftung Pestalozzianum im Rahmen des Projekts «Sammlungen Pestalozzianum: Erschliessung, Erhaltung und Nutzung des Sammlungsgutes» mit Unterstützung des Lotteriefonds des Kantons Zürich bis 2022 aufgearbeitet und digitalisiert. Möglicherweise lässt sich im Zug der Aufarbeitung sämtlicher Zeichnungen des Pestalozzi-Kalenders auch die verschollene wiederfinden. Womit die «Schweizerschlacht» des jungen Zeichentalents Friedrich Dürrenmatt rund neunzig Jahre nach der Erstveröffentlichung im Schatzkästlein wieder ans Licht käme.
Literatur
Dürrenmatt, F. (1998) [1981/90]. Labyrinth: Stoffe I-III: Der Winterkrieg in Tibet; Mondfinsternis; Der Rebell, 31-43.
Lehninger, A. (2015). Vor-Bilder, Nach-Bilder, Zeit-Bilder: Kommerzielle Zeichenwettbewerbe für Kinder in der Schweiz, 1935-1985, 21-36.
Planta, A. von (Hrsg.). (2011). Friedrich Dürrenmatt: Sein Leben in Bildern.